Ziemlich genau vor fünf Jahren am 26. Oktober 2017 in Ex-Karl-Marx-Stadt. Morgenkaffee. Für neun Uhr hatte sich der Poolservice angesagt. Ich weiß heute ehrlich gesagt nicht mal mehr, worum es ging. Mir war lediglich im Vorfeld schon klar, dass das Problem wie so oft nicht gelöst wird. Wurde es auch nicht. Der Typ kam, war nach zwanzig Minuten weg und der Fehler blieb. War mir auch herzlich egal. Was dann kam, war alles andere als egal. Den nächsten Kaffee aus dem Automaten gedrückt und hoch ins Büro. Ich weiß noch, dass es um einen medizinischen Fachartikel ging, für den die Fertigstellung am Abend vereinbart war. Der war auch soweit fertig. Korrekturlesen, kleine Änderungen. In dem Moment, in dem ich die Datei offen hatte, bekam ich extreme Schweißausbrüche. Mehr erstmal nicht. Warm war mir, ich wollte auf die Terrasse zum Rauchen. Bis dahin kam ich nicht. Auf dem Weg dorthin schlug ein brutaler Schmerz zu. Im Wohnzimmer krümmte ich mich über eine Sessellehne, ich dachte an Muskelkrämpfe. Nach ein paar Minuten war alles ok, als ob nichts war.
Hm, eine Dusche könnte helfen. Gesagt, getan. Die Schweißausbrüche kamen wieder, ganz langsam. Nach dem Duschen Kaffee und raus auf die Terrasse eine rauchen. Im Nachhinein einerseits eine dumme, anderseits gar keine schlechte Idee. Es kamen Schwindelanfälle, die immer heftiger wurden. Zeit zum Handeln. Ich versuchte, meine Lebensgefährtin zu erreichen. Klappte auch, die hatte jedoch null Zeit und war ziemlich weit vom Wohnort entfernt. Ich meinte, ich fahre selbst in die Klinik, Theater. Nein, ihre Mutter kam 20 Minuten später und sackte mich ein. Zu dem Zeitpunkt war mir mental schon so ziemlich alles egal. Der Zustand lässt sich im Nachhinein nicht richtig wiedergeben, auf der einen Seite war so etwas wie Hoffnung auf Hilfe und auf der anderen Seite war es mir tatsächlich egal. Meine Gedanken kreisten fast ununterbrochen um meine Kinder. Ist alles geregelt, fehlt noch irgendwas.
Regulär ist die Notaufnahme des örtlichen Klinikums so knapp zehn Autominuten entfernt. Die kamen mir vor wie eine Stunde, teilweise zeitlupenähnliche Abläufe. An die Gespräche während der Fahrt kann ich mich noch gut erinnern. Ich schien nicht gut auszusehen, erntete immer wieder ernste, besorgte Blicke. In der Notaufnahme angekommen, sollte das klassische Prozedere losgehen. „Karte!“ – „Ist nicht, privat versichert“ – „Ausweis!“ Ausweis lag. „Nehmen Sie dahinten mal Platz!“ und zeigt auf gut zwei dutzend Wartende. Ich schaue die Mitarbeiterin an, beuge mich nach unten und sage, dass sie mir entweder jetzt einen Arzt vor das Gesicht stellt oder ich werde direkt in die Kardiologie gehen. Das erste Mal schaute sie mich an und riss die Augen erschrocken auf. Ich sah also wirklich Scheisse aus. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte sie die Türen auf, zwei Ärzte und zwei Pfleger, innerhalb einer halben Minute war ich verkabelt, lag auf dem Stretcher und wurde eilig in Richtung Schockraum geschoben.
Es war 11 Uhr. Das Chaos begann. Ein Doc versuchte verzweifelt, die EKG-Elektroden immer wieder neu anzubringen, weil er meinte, dass das EKG irre Werte ablieferte. Eine Schwester versuchte, Blutdruck zu messen, kam immer wieder bei 280 zu 220 raus und war damit nicht zufrieden. Alle Linien irgendwie wie bei einem Erdbeben und der Blutdruck schien tatsächlich so hoch. Es wurde ein Zugang gelegt und Zeug gespritzt ohne Ende, gefühlt alles, was irgendwie helfen könnte. Vorher wurde ich um einige Röhrchen Blut erleichtert, die per Laufburschen direkt ins Labor wanderten, ein paar weitere wurden wohl direkt vor Ort benutzt, um h-FABP und c-Troponin zu messen. Die Werte waren wohl ok. Ein Irgendjemand versuchte zwischendurch, meine Krankengeschichte und Allergien zu erfragen. Antworten darauf fielen mir schwer.
Irgendwann in dem Gewusel war ich dann wohl tot. Ich erinnere mich, wie ich komplett schweissgebadet wach wurde und mich alle anstarrten. Das Irre: In meiner Erinnerung genau in der Position, die ich zuletzt im Kopf hatte. Der Blutdruck pegelte sich bei 240 zu 200 ein, irgendwie waren damit alle nicht so wirklich zufrieden. Das EKG spielte immer noch wilde Sau. Ein Kardiologe betrat die Bühne. Schaute sich das EKG an, kritzelte irgendwelche Dinge auf seinen Block. Keine Fragen, kein Blickkontakt. Aber: Der Herr läutete die angenehme Ära des Tages ein: Opiate. Er ordnete die IV-Gabe von 30mg Morphium an. Tatsächliche körperliche Aktivität: Es wurde ein Ultraschall durchgeführt. „Hm, da sieht alles gut aus, keine Ahnung was sie haben…“ Einige Minuten später gingen die unsäglichen Krämpfe wieder los. Ich krümmte mich, der Schweiss lief aus allen Poren, offenbar wurde ich dabei auch laut. Das Resultat: Weitere 30mg Morphium. Es änderte sich erstmal nichts. Besorgte, ratlose Blicke.
Das klingt jetzt viel und nach langer Behandlung, letztlich waren das in der Summe allerdings bis hierhin vielleicht 20, 25 Minuten. Niemand der Angehörigen durfte zu mir. Die Leute im Schockraum wurden immer weniger. Zuletzt saßen der Kardiologe und eine Schwester bei mir und starrten mich an. Wir unterhielten uns über irgendwas, bis die nächste Krampfattacke kam. Nach einem Telefonat kamen dann sofort 60mg Morphium zum Einsatz. Diese Dosis haute mich um. Die beiden letzten Anwesen verließen den Schockraum. Ich habe noch ein Selfie-Video von mir gemacht, das war irgendwie in dem Moment genauso schräg wie jetzt, wenn ich es mir ansehe.
Die Schmerzen waren schlagartig weg. Ich fror, man gab mir ein Bettlaken und dimmte das Licht. Es war 11.30 Uhr. Ich legte mich auf die Seite, klemmte mir das Laken zwischen die Beine und wollte nur noch schlafen…
Ging aber nicht. Also zumindest nicht gefühlt. Eine Stunde später sah als Spiegelung, wie jemand am Schockraum vorbeihuschen wollte und spontan stehen blieb, kurz innehielt und dann zu mir kam und mich ansprach: „Sagen Sie mal, haben Sie Verwandtschaft in Stralsund und Berlin?“ Ich dachte, boah, auf seichte Gespräche habe ich mal keine Lust… „Hören Sie mich?“ – „Ja, klar.“ – „Haben Sie jetzt Verwandtschaft in Stralsund und Berlin?“ – „Wer will das warum wissen?“ – „Mein Name ist Dr. Sowieso, ich denke, dass es nicht so viele Menschen mit diesem Tattoo gibt.“ Sprachs und tippte mir auf den Rücken. Ich versuchte mich schnell in Rückenlage zu bringen, das Morphium hat das verhindert, meine Bewegungen müssen ziemlich albern ausgesehen haben. Der Doc half mir, mich ein eine halbaufrechte Position zu bringen. „Warum sind sie denn hier und warum ist niemand bei Ihnen?“ – „Keine Ahnung, vermutlich ein Herzinfarkt, irgendwann waren alle weg…“ Er tipperte im Computer rum und rannte wie von der Tarantel gestochen raus. Eine halbe Minute später brach die Hölle los.
Im Nachhinein bekam ich 15 Ärzte und eine Handvoll Pflegekräfte zusammen, die sich innerhalb weniger Minuten um mich versammelten. Die Ergebnisse aus dem Labor haben offenbar nette Blutwerte zu Tage gefördert, der Doc, der mich ansprach, übernahm das Kommando: „Sie da, sie da und sie da: Raus hier, bringen Sie mir Dr. XYZ! Sofort! Sie da, holen sie das, Sie da, machen Sie einen OP bereit, ich brauche da Frau Dr. Sowieso!“ Ziemlicher Kommandoton. Irgendwie wurde ich zeitgleich von vielen Händen auseinandergenommen, Diagnosen wurden besprochen, ich war nicht in der Lage, zu folgen. Irgendwann trudelten neue Ärzte ein, einige gingen. Eine Ärztin und der Doc, der alles einläutete, redeten auf mich ein. Sie würden eine Verlegung nach Leipzig vorbereiten, quasi sofort geht es mit dem Helikopter los und in einer halben Stunde möchte man mir dort Bypässe bauen. Ich hätte ziemlich üble Verengungen, die mit Stents nicht behandelbar wären und drei nachgewiesen Infarkte erlitten. Im Tran gingen bei mir die Alarmglocken an: „Nö, auf keinen Fall auch nur ein Bypass. Totes Gewebe, wenn das verstopft, merke ich nicht mal, wenn ich sterbe…“ – „Sie müssen aber…“ – „Muss ich nicht.“ – „Doch, sie haben nur noch ein paar Stunden, wenn überhaupt…“ – „Werden wir ja sehen.“ Ich war nicht nett. Pampig, trotzig. Die beiden zogen sich zurück und beratschlagten, die Crew vom Heli stand in der Tür. Ich wurde laut und meinte, die, die nichts zu tun haben und tun wollen, dürfen gern vor der Tür warten. Mir waren das zu viele Menschen, die alle ihre Meinung von sich gaben. Der Doc setzte sich zu mir auf den Tisch und fing an, weiter auf mich einzureden. Es wäre die einzige Möglichkeit, niemand traut sich hier, einen Stent zu setzen. Vermutlich dank des Morphiums war mir das alles herzlich egal. Ich teilte den Anwesenden mit, dass ich jetzt die Location verlassen werde und mich Richtung Karlsburg zu einem mir bekannten Kardiologen begeben werde. „DAS ÜBERLEBEN SIE NICHT“ – es wurde wieder laut. So ging das bestimmt eine halbe Stunde.
Es war 12.30 Uhr. Dann der Sinneswandel. „Gut, Frau Dr. K wird versuchen, Sie hier zu operieren. Wenn das nicht funktioniert, müssen wir doch noch über Bypässe reden.“ – „Ok, ich möchte vorher noch auf den Topf“ und wollte aufstehen. Die Diskussionen begannen wieder. „Sie bleiben liegen, Sie dürfen nicht aufstehen!“ Lange Rede, kurzer Sinn: Auf dem geschobenen Weg zum Krankenwagen (der Kardio-OP befand sich am anderen Ende des Geländes) wurde ein Stopp am Personalklo eingelegt. Ich bestand darauf, allein reinzugehen. Alles wie im Film. Man stöpselte mich von allen möglichen Kabeln ab und ich schlich ins WC, schloss die Tür und hockte mich auf den Topf, das Krankenhaushemdchen baumelte samt meinem Kopf vorne über. Nach ein paar Minuten erstes Klopfen: „Alles ok?“ – „Man, ich brauch ein paar Minuten!“. Irgendwann war ich fertig, absurderweise erinnere ich mich daran, dass ich mich beim Händewaschen im Spiegel angesehen habe und mich selbst nicht erkannte. Ich öffnete die Tür und schaute in ein gutes halbes Dutzend entsetzter Augen. Niemand hätte es offenbar für möglich gehalten, dass ich den Topf lebend verlasse. Ich überlegte, ob ich den Ernst der Lage falsch einschätzte. Im Nachhinein vermutlich ja, denn mir war es echt egal, was die von sich gaben. Bypass, pfff, mit mir nicht. Irgendwann, Monate später, stellte sich heraus, dass genau das die Entscheidung war, die mir ermöglicht, jetzt, fast auf den Tag genau fünf Jahre später, diese Zeilen zu schreiben.
Erleichtert schwang ich mich auf die Transportliege. Naja, so meine Erinnerung. In Wahrheit sah das dann wohl eher aus, als wenn ein Faultier eine Wassersäule hochkriechen wollte. Sofort wurde ich in den Krankenwagen verfrachtet, fünf Ärzte hockten um mich herum und starrten auf EKG und andere Geräte. Erstaunlicherweise ging das Sondersignal sofort an. Meine Vermutung, dass man mich auf diesem Weg zu den Bypassfans nach Leipzig bringen wollte, wurde allerdings von allen Anwesenden zerschlagen. Nach einigen Minuten Fahrt stoppte der Wagen, die Türen wurden aufgerissen und die Liege samt mir aus dem Wagen geholt. Alle hatten es eilig, zwei Ärzte telefonierten dauerhaft und rannten mit wehendem Kittel neben mir her. Naja, neben dem Bett…
Es war mittlerweile 13.10 Uhr an einem ganz netten Spätsommertag mitten in Chemnitz.
[Fortsetzung folgt]